Ratibor-Studen: Eine polnische Schule, Herr Direktor?

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Bereits während seiner Reise zu den Deutschen nach Schlesien im Herbst 2008 hatte sich der AGMO-Vorstand darüber gewundert, mit welcher Vehemenz und Selbstverständlichkeit der gastgebende Direktor Goldman der zweisprachigen Grundschule in Ratibor-Studen darauf hingewiesen hatte, daß diese Bildungseinrichtung „eine polnische Schule“ sei. Die staatliche Trägerschaft bzw. hoheitliche Verantwortlichkeit hatte die AGMO e.V. zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.

Die zweisprachigen Grundschule in Ratibor-Studen

Direktor Goldman mit eigener Geschichtsdeutung

Wie verquer die Denkweise des Schulleiters in Wirklichkeit war, wurde erst anhand seiner neuerlichen Aussage anläßlich einer Konferenz in Ratibor unter der Schirmherrschaft des Ratiborer Stadtpräsidenten am 22. Oktober 2010 unmißverständlich deutlich, als er in seinem Redebeitrag die Grundschule abermals als polnische Schule bezeichnete, wie aus dem Teilnehmerkreis der Konferenz mitgeteilt wurde. In seinen Ausführungen habe Herr Goldman nicht nur die ideellen und materiellen Hilfeleistungen der AGMO e.V. im wesentlichen verschwiegen, sondern auch behauptet, daß „die Studener in den Zeiten der Aufstände zu Polen wollten, das Dorf mehrheitlich für Polen abgestimmt habe und dieses Schulgebäude auch polnisch war und damals als polnische Schule diente“.

Erinnerungen eines AGMO-Mitgliedes aus Studen

Da die jüngere Geschichte Oberschlesiens etwas anders in Erinnerung war und zufällig der Bericht eines AGMO-Mitgliedes, geboren 1938 in Ratibor-Studen, vorlag, hat sich die AGMO e.V. für eine historische Untersuchung und etwaige Richtigstellung entschieden.
Johann Tomiczek erinnert sich: „Meine Kindheit kann ich bis Oktober 1944 als glücklich ansehen. Am 1. September 1944 fand meine Einschulung statt, vorher besuchte ich den Kindergarten im Gebäude, das an die Volksschule rückwärtig angrenzt. Sowohl im Kindergarten als auch in der Schule, in die auch schon meine Eltern gegangen sind, beide Jahrgang 1913, wurde ausschließlich in deutscher Sprache unterrichtet, und zwar in allen Fächern. Mitte Oktober 1944 wurden Bomben von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen. Ab diesem Zeitpunkt hat es keinen Schulbetrieb mehr gegeben. (…) Karfreitag, am 30. März 1945 drangen die Sowjets in unseren Ort vor, und einige Wochen später kamen die Polen.“ Der Berichterstatter bestätigte auf Nachfrage, daß seine Eltern auch schon die deutsche Schule besucht hatten und ergänzt: „Diese beiden Schulgebäude - andere gibt es bis heute (2008) nicht in Studen - sind durch deutsche Behörden gebaut worden, da auf dem Gebiet bis 1945 nie Polen gewesen ist.“

Ehemaliger Kindergarten in Studen hinter der Grundschule

Historische Untersuchung der AGMO e.V.

Bei der Abstimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in Oberschlesien im Jahr 1921 über den Verbleib beim Deutschen Reich gemäß des Diktatfriedens von Versailles stimmten im damaligen Ort „Studzienna“ 689 (59,6 %) für das Deutsche Reich, 462 (39,97 %) für Polen, und 5 Stimmen (0,43 %) waren ungültig. 1156 von 1168 Abstimmungsberechtigten (98,97 %) hatten an der Abstimmung teilgenommen. In Ratibor haben nach amtlichen Zahlen sogar über 90 % der Abstimmenden für den Verbleib beim Deutschen Reich gestimmt. Der Ort Studzienna ist erst zum 01.01.1927 nach Ratibor eingemeindet und 1936 in Studen umbenannt worden. Somit ist die Aussage, daß die Einwohner des Ortes Studzienna mehrheitlich für Polen gestimmt hätten, nachweislich falsch. Das Abstimmungsergebnis kann aber nicht unmittelbar auf Nationalität und Sprachkenntnisse übertragen werden.
Hinsichtlich der „polnischen Schule“ ist zu bemerken, daß es in der Zwischenkriegszeit in Studzienna neben der deutschen Volksschule gemäß internationalen Konventionen eine polnische Minderheitenschule gab. Im Kreis Ratibor wurden in den Jahren 1923 bis 1925 insgesamt zehn polnische Minderheitenschulen eingerichtet, die nach erfolgten Anmeldungen von insgesamt 625 Kindern (bei damals ca. 60.000 Einwohnern) besucht werden sollten. Die Zahl der Schulkinder war in Wirklichkeit aber noch viel geringer als die Zahl der Anmeldungen und ging in den Folgejahren noch stärker zurück. Von 4826 deklarierten Schulkindern für polnische Schulen in ganz (West-) Oberschlesien im Jahr 1923 besuchten nur 1222 die angebotenen Schulen, also etwa ein Viertel. Bereits 1926 war die Zahl der polnischen Minderheitenschulen in nur einem Jahr wieder von 53 auf 35 gesunken, lange bevor sich die politischen Verhältnisse im Deutschen Reich änderten. Im Jahr 1938/39 gab es nur noch in Markowitz eine einzige solche Schule mit 7 Schülern.

v.l. Prof. Dr. Dr. h.c. R. Ebeling, P. Oprzondek, A. Neuwald-Piecha, U. Lamla, R. Parys

Die deutsche Volksschule in Studen wurde vermutlich um 1900 erbaut. Die zwischenzeitlich für wenige Jahre existierende polnische Minderheitenschule, dürfte lediglich über einen einzigen Klassenraum verfügt haben. Der Antrag auf Eröffnung einer polnischen Minderheitenschule in Studzienna wurde am 27.10.1923 gestellt und 73 Kinder angemeldet. Bei der Eröffnung der Schule am 1. Mai 1925 wurde die Schule aber lediglich von 20 Kindern besucht. Die Schülerzahl war konstant niedrig mit abnehmender Tendenz, bis die Schule im Jahr 1932 mangels Schülern geschlossen wurde (1925: 20 Schüler, 1926: 14 Schüler, 1927: 10 Schüler, 1928: 12 Schüler, 1929: 11 Schüler, 1930: 7 Schüler, 1931: 4 Schüler). Die polnische Politik in dem nach der Abstimmung vom Deutschen Reich abgetrennten Ostoberschlesien hat dazu beigetragen, daß selbst diejenigen in Westoberschlesien, die zuvor zweifelten oder für Polen optierten, sich nach der Abtrennung des Ostteils von Oberschlesien mehrheitlich zur deutschen Nation, Sprache und Kultur bekannten. Die Erkenntnisse und Zahlen können sogar polnischsprachigen Veröffentlichungen aus der Zeit vor der politischen Wende entnommen werden! Folglich ist auch die zweite zentrale Aussage des heutigen Direktors von der früher polnischen Vorgängerschule nachweislich falsch.
Letztlich ist fragwürdig, warum Direktor Goldman eine falsche Geschichtsbeschreibung in den Vortrag über „seine“ heute zweisprachige Grundschule einbezogen hat, die keinen logischen Zusammenhang von der früheren Situation zu der heutigen Sprach- und Schulsituation darstellt, mithin keine Anknüpfung an Zweisprachigkeit in einem geeinten Europa mit der Zielsetzung eines modernen Volksgruppen- und Minderheitenschutzes erfolgt. Gleichwohl ist sich die Schulleitung nicht zu schade, um bei bundesdeutschen Förderern um finanzielle Unterstützung für die „polnische“ Schule zu werben.

Schlußbemerkung

Das Verhalten des Direktors wäre zu kommunistischen Zeiten nicht außerhalb des üblichen Sprachduktus gewesen. In einem zusammenwachsenden Europa verwundert es jedoch zutiefst und hebt sich von den zahlreichen aufgeschlossenen jungen Polen ab, die ganz überwiegend an der wahren Geschichte ihrer Umgebung interessiert sind. Der Zugang zu Archiven, Quellen und Büchern ist heute nicht mehr verwehrt. Wenn der Direktor völlig ahnungslos ist oder aber wider besseres Wissen Unwahrheiten behauptet, ist er für eine derartige Schule ungeeignet, zumal von ihm keine Verständigung im europäischen Geiste und des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages zu erwarten ist.
Dies geht auch aus einem Schreiben des Elternrates vom 17.02.2010 an Direktor Goldman hervor, in dem diese versichern, in dieser Angelegenheit von der Sorge um den weiteren Betrieb der Schule und um ihre Kinder geleitet zu sein. Die derzeitige Atmosphäre und der Schriftwechsel fördere nach Darstellung der Elternvertreter nicht gerade die Verständigung. Deshalb baten sie um ein Treffen in einem Kreis von kompetenten Personen mit der Zielsetzung, dieses und andere Probleme zu besprechen, um eine atmosphärische Grundlage für die künftige Zusammenarbeit zu schaffen. Gegen den Direktor spricht ferner, daß die Zweisprachigkeit an der Schule auch wegen seiner persönlichen Haltung zwischenzeitlich beendet war, da er nach gut unterrichteten Kreisen als Lehrer nicht die Qualifikationen nachweisen konnte, um auch in deutscher Sprache unterrichten zu dürfen. Somit konnte er selbst auch kein Interesse an einer zweisprachigen Schule haben. Deshalb bleibt zu hoffen, daß die Schule bei der nächsten, jeweils befristeten Ausschreibung der Direktorenstelle einen geeigneteren Kandidaten respektive eine Kandidatin findet.